Wo erlebst du in deiner Arbeit die größten Spannungen zwischen dem Wunsch nach Gleichstellung und den realen Strukturen – und wie gehst du mit diesem Widerspruch um?
Thrive+ und ich sind wie eine Lokomotive, die mit ziemlich viel km/h eine weite Reise angetreten hat. Wir sind mit ordentlich Tempo unterwegs und zwischendrin müssen wir immer wieder abbremsen oder Stopps einlegen. Mein Gefühl ist, dass genau so die Einwirkung des aktuellen Systems auf Bewegungen wie unsere oder andere ist. Meine Überzeugung ist es, dass die gesellschaftliche Transformation unaufhaltbar ist und dass das Einzige, was wir spüren, Zwischenhalte sind.
Jede starke und systemwirksame Bewegung ruft irgendwann Gegenbewegungen hervor. Doch die Veränderungen, die wir anstoßen, wirken – selbst über lange Zeiträume hinweg – und bewegen auch die starrsten Strukturen. Insofern ist meine Antwort die, dass ich in meinem Alltag, in meinem normalen Job, in meinem Leben, natürlich immer wieder damit konfrontiert bin, dass die Welt, die uns umgibt, noch lange nicht da ist, wo wir sie gern hätten, was Chancengerechtigkeit betrifft – aber, dass jede Aktivität genau deshalb unglaublich wichtig und notwendig ist. Steter Tropfen höhlt den Stein.
Viele Empowerment-Initiativen zielen auf Sichtbarkeit – du aber arbeitest auch an Systemen, an Machtverhältnissen. Was hast du über nachhaltige Veränderung gelernt, das du früher vielleicht anders eingeschätzt hättest ... und was hast du über kollektives Momentum gelernt, das du vorher unterschätzt hast?
Die Frage ist sehr schön. Es ist meiner Wahrnehmung nach wichtig, dass viele an einem Strang ziehen –daher schätze ich alle Arten von Initiativen und Netzwerken, die sich aktivistisch engagieren. Wir bei Thrive+ versuchen aber durchaus uns zu fragen, welche unserer Aktivitäten tatsächlich wirksam ist und uns dem näherbringt, was wir erreichen wollen. Das ist für uns ein sehr wichtiges Leitprinzip.
Ob das auch andere so machen, kann ich nicht beantworten – aber ich hoffe es, auch weil man sonst schnell in die Falle des White Feminism tappen kann. Unsere Erkenntnis zu den aktuellen Machtverhältnissen war und ist, dass wir die mitnehmen müssen, die jetzt in den Positionen sitzen und mehr Power haben als wir selbst. Für mich steht der Dialog deshalb immer vor der Konfrontation. Bei uns uns in Thrive+ nennen wir das „kollaborativen Feminismus“. Das bedeutet aber nicht, dass Systemkritik nicht auch an der Tagesordnung steht. Das eine schließt das andere nicht aus.
Was ich gelernt habe, ist – wie oben erwähnt – dass man für Veränderung auch Unsicherheitstoleranz und Flexibilität braucht. Es ist fast wie das viel zitierte Startup-Mindset: selbst gestalten, das eigene Ziel vor Augen haben, – und wenn man mal hinfällt oder von jemandem angerempelt wird, wieder aufstehen … und „volle Kraft voraus!“.
Eine Sache, die mich dennoch sehr bewegt hat, ist, dass zu unserem ersten Festival 2023 so viele Menschen in meinen Heimatort Bruneck gekommen sind (über 800). Das zeigt, dass die Zeit reif ist für all das, worüber wir gerade sprechen. Das ist für mich das kollektive Momentum – und unsere Chance ist es dieses zu nutzen.